Vor fünf Wochen flog ich in die USA um die Wahlen zu lesen. So wie jahrlange Joggeli-Besucher verstehen, ein Fussballspiel zu lesen. Durch die Beobachtung des Spielaufbaus, der Bewegungsabläufe, der Rythmuswechsel, der Laufwege der Spieler, ihre Ballwechsel, Kombinationen und Spielverlagerungen erkennen diese Beobachter die Stärken und Eigenheiten der einzelnen Teams, die Fähigkeiten der einzelnen Spieler, ihr Verständnis für einander und können abschätzen, wie sich ein Spiel entwickeln wird, welche Ergebnisse wahrscheinlich sind.
So machte ich mich via Boston nach New Hampshire im neuenglischen Nordosten der USA. Ich hörte im Radio den unzähligen politischen Diskussionen und Reden zu, las verschiedene überregionale und lokalen Zeitungen , deren Leitartikel und Leserbriefe zur anstehenden Wahl, besuchte die „Town-meetings“ der Kandidatinnen und Kandidaten beider Parteien, beobachtete den Aufmarsch des Publikums, hörte mich in einzelne Gespräche unter den Anwesenden hinein, sprach einzelne sogar an zu ihren Präferenzen und hörte mich deren Begründungen an, lauschte aufmerksam den Ausführungen der Kandidaten, beobachtete, wer wann klatschte, wer wann buhte, verfolgte die Dialoge zwischen den Kandidaten und einzelnen Fragestellern, beobachtete dann den Wahltag, hörte mir stundenlang die mehr oder weniger selbstgefälligen Reden der Sieger und Verlierer, die Analysen und Erklärungen der Ergebnisse an und machte mich dann auf in den nächsten Bundesstaat. In den Süden nach South Carolina und anschliessend etwas westwärts nach Georgia,Alabama und Tennessee, wo die folgenden Wahlen mit den ähnlichen Fragen und Bemühungen anstanden, immer im Bemühen zu verstehen, was hier passiert, genauer, was sich zeigt, in dem was hier passiert, was die Leute zum Ausdruck bringen wollen, mit dem Namen, den sie auf dem Wahlzettel ankreuzen.
Innert vier Wochen haben nun fünfzehn der 50 US-Staaten gewählt. Etwa ein Viertel der Delegierten, die im Sommer an den beiden grossen Partei-Konventen ihren Kandidat, beziehungsweise ihre Kandidatin bestimmen werden, sind nominiert und entsprechend mandatiert. Die personellen Trends sind klar und widersprechen in mancherlei Hinsicht den Erwartungen der Parteispitzen. In beiden Parteien sind die Aussenseiter stärker als alle annahmen. Die Aufmüpfigen kommen besser an, als die meisten dachten.
Bei den Republikanern dominiert der Aussenseiter, Milliardär und Anti-Politiker Donald Trump. Er siegte in zehn der fünfzehn Bundesstaaten. Trumps Fussabdruck: Eine ungehobelte, brachiale Rhetorik, unausgegorene Inhalten sowie extreme Botschaften voller Halbwahrheiten und fern des traditionellen republikanischen Programms. Trumps Unart und Dominanz entsetzt die republikanische Prominenz so sehr, dass manche derzeit fürchten, die Partei falle auseinander und werde dieses Wahljahr nicht überleben. Viel zu spät versucht es nun die republikanische Parteispitze mit dem Griff an die Notbremse: Vorgestern mobilisierte sie ihren letzten Präsidentschaftskandidaten, Mit Romney, der 2012 Barak Obama unterlegen war, und liess ihn eine Rede halten, in der er Donald Trump in jeder Hinsicht fertig machte und für den Fall dessen Erfolgs verheerende Folgen für alle, die Welt im allgemeinen wie die USA im besonderen, vorhersagte.
Wobei das Problem der Republikaner grösser ist als bloss Trump. Denn die einzige für die meisten unter ihnen akzeptierbare Alternative ist ausgerechnet jener der vier übrig gebliebenen Kandidaten, der bisher am schlechtesten schnitt: John Kasich, Gouverneur des grossen Industriestaates Ohio. Die beiden anderen Kandidaten, die wenig erfahrenen Senatoren Cruz (Texas, siegte in vier Bundesstaaten) und Rubio (Florida, siegte bisher nur in einem) sind Kinder der extremen Teaparty-Bewegung, stehen rechts von Trump und fielen anlässlich der beiden letzten grossen Debatten auf ein Niveau, das sie ebenso wenig präsidial erschienen liess als ihr grosser Konkurrent!
Ein Kommentator meinte zur republikanischen TV-Debatte von vorgestern Nacht: „Wahrscheinlich die schlimmste Diskussion in der Geschichte der US-Wahl-Debatten. Es schien mir, als ob nur ein einziger erwachsener Mensch dabei war, Gouverneur Kasich.“ Einiges deutet darauf hin, dass viele prominente Republikaner hoffen und nun via Dutzenden von Millionen in TV-Spotts investierte Dollars darauf hinwirken werden, dass keiner der vier Kandidaten vor dem Partei- Konvent eine Mehrheit der Delegierten findet. Dann müsste am Konvent ein neuer Kandidat ausgehandelt werden – eine wenig transparente Form der Kandidatenkür, die letztmals 1948 praktiziert worden war.
Bei den Demokraten ist der Trend weniger dramatisch. Dank ihrer ausserordentlichen Unterstützung bei den schwarzen Frauen, die in den Südstaaten die Mehrheit der demokratischen Mitglieder ausmachen, gewann die ehemalige Firstlady, Senatorin und Aussenministerin Hillary Clinton die Mehrheit in elf der fünfzehn Bundesstaaten. Ihr sozialdemokratischer Konkurrent Bernie Sanders begeistert weiterhin überraschend deutlich die jüngeren Wählerinen und Wähler sowie alle, die mehr wollen als „Establishment-Politik“. Ob Sanders die Delegiertenmehrheit von Hillary Clinton noch gefährden kann, wird sich heute Abend in Kansas und Nebraska, morgen Sonntag in Maine und am Dienstag in Michigan abzeichnen: In diesen Staaten wählen viele einfache Industriearbeiter, die Angst haben um ihren Arbeitsplatz und die Sanders ebenso überzeugen muss wie die Jüngeren und Intellektuellen, wenn er noch eine Chance haben will.
Doch plötzlich merke ich, dass Hunderttausende von US-Bürgerinnen und Bürgern machen das gleiche wie ich. Sie versuchen diese so eigenartigen Wahlen zu lesen und zu verstehen, was sie uns über die Befindlichkeit der mehr als 320 Millionen Menschen umfassenden usamerikanischen Gesellschaft erzählen. Sie sehen plötzlich: Viel mehr unter ihnen haben viel mehr Angst, als den meisten bewusst war, sie ärgern sich ungleich mehr über die Politiker und ihre bisherige Politik und haben jegliches Vertrauen in sie verloren. Die Gesellschaft durchziehen Abgründe, die bisher wenig erkannten. Diese wütenden, verängstigte Menschen belohnen jene, die möglichst deutlich sagen, dass einiges sich ganz grundsätzlich ändern muss in Washington und im Land. Sie fühlen sich als Verlierer und haben den Eindruck, sie hätten ihre Heimat verloren, würden in mancherlei Hinsicht bedroht und verlangen eine deutliche Kurskorrektur. Sie haben auch genug von geschliffenen Reden und Analysen , möchten endlich Taten und wirkliche Reformen sehen , deren Früchte ihnen nicht länger vorenthalten werden.